«Squid Game» auf dem Pausenplatz? Halb so schlimm …
- Simone Liedtke
- 10. Jan. 2021
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 22. Feb. 2023
BEITRAG AUF MAMABLOG

Wenn Kinder gewalttätige Szenen aus Serien nachspielen, wirkt das auf Erwachsene erschreckend. Gastautorin Simone Liedtke sieht das etwas anders.
Eine der erfolgreichsten Serien auf Netflix, über die in letzter Zeit immer wieder diskutiert wurde, heisst «Squid Game». Es geht darin um einen Wettbewerb unter Erwachsenen mit einfachen Kinderspielen wie «Ziitig läse», bei denen die Verlierer jedoch sogleich getötet werden. In letzter Zeit berichteten die Medien des Öfteren über Szenen auf Schulhausplätzen, wo Schüler «Squid Game» nachspielen und die Verlierer verprügelt werden. Das klingt ziemlich alarmierend.
Zeitungstitel, wie: «Wenn aus Spiel Gewalt wird!» erscheinen jedoch eher tendenziös. Wörter wie «verprügeln» und «Gewalt» sind mächtig. Vor allem, wenn sie von Erwachsenen ausgesprochen und ausgeübt werden. «Verprügeln» hat auf dem Schulhof jedoch meist eine andere Bedeutung als spät abends in einer Unterführung unter angetrunkenen Erwachsenen.
Klar ist: Gewalt ist keine Lösung
Ich will hier nichts verharmlosen. Gewalt ist nie eine Lösung. Nur gelten auf dem Schulhausplatz unter Kindern andere Regeln als bei uns Erwachsenen. Oftmals braucht es nicht einmal einen Grund oder Streit, damit gekämpft wird. Selten fliesst dabei Blut. Vor allem Jungs kämpfen. Sie müssen ihre Kräfte messen, imponieren, die Rangordnung festlegen. Das ist ganz normal. Nicht normal ist, jemanden kategorisch fertigzumachen. Wir Erwachsenen machen es vor. Wenn etwa am Arbeitsplatz gemobbt wird, anstatt gearbeitet. Vielleicht wäre es hier sinnvoller, zu kindlicheren Lösungsstrategien zurückzufinden und die Konflikte mit einem kleinen Wettkampf zu lösen. Zum Beispiel mit einer Partie Schach oder einer Runde Pingpong. Oder wer es körperlicher mag: mit einem Ringkampf. Danach Hände schütteln und zurück an die Arbeit.
Vorbild Winnetou und Old Shatterhand
Früher war übrigens nicht alles besser. Nur anders. Früher gab es Winnetou und Old Shatterhand aus den Karl-May-Verfilmungen. «Indianerlis» spielen war hoch im Kurs, Political Correctness unbekannt. Bei uns gab es zwei Gruppen – die Bleichgesichter und die Rothäute. Und es gab Bruno, den unsportlichen Jungen, den niemand in der Gruppe haben wollte, der aber trotzdem immer mitspielte. Er wurde meistens an einen Baum gefesselt, den Marterpfahl. Manchmal wurde er mit Holzpfeilen beschossen und manchmal vergass man ihn einfach.
Das Spiel war eine wilde Version von Räuber und Poli. Wer nicht durch irgendein Wurfgeschoss «getötet» wurde, kämpfte sich gegenseitig zu Boden und wurde gefangen genommen. Dabei wurde die Brille meiner Schwester zerstört und später mit Heftpflaster repariert. Letzteres wirkte sich demütigender auf sie aus, als der Akt der Zerstörung. Bruno ging es verhältnismässig gut, gefesselt am Marterpfahl. Ausserdem entwickelte er sich zu einem wahren Entfesselungskünstler und war meist nicht mehr auffindbar, wenn er «gefoltert» werden sollte.
Nachspielen, um zu verstehen
Zurück auf den Pausenhof. Wieso will eine Gruppe Kinder freiwillig «Ziitig läse» nach «Squid Game»-Regeln spielen, wenn alle bis auf einen verprügelt werden sollen? Die Motivation zu solch einem Spiel liegt wohl weniger in einer erhöhten Gewaltbereitschaft der Kinder, sondern darin, dass Kinder beim Spielen und Imitieren lernen. Filmszenen von Gewalt und Mord begreifen Kinder nicht, diese Konzepte sind zu abstrakt, sie können sie nicht verarbeiten. Sie verstehen die Gesellschaftskritik in «Squid Game» nicht, sie erkennen Überzeichnungen und Ironie nicht, sie sehen nur, was passiert, ohne zu wissen, wie sie diese Szenen einordnen sollen. Erst beim Nachspielen auf Kinderart werden diese Szenen irgendwie greifbar.

Nun stellt sich die Frage, ob man Kindern solche Serien und Filme verbieten sollte. Und ob das überhaupt möglich ist. Möglich ist, die Inhalte zusammen mit den Kindern anzuschauen und bei Bedarf zu erklären. Verbieten wird wohl eher schwierig. Ein Verbot macht die Sache erst richtig verlockend. Mich hätte man von den Karl-May-Filmen nicht fernhalten können. Und vom «Indianerlis» spielen schon gar nicht. Auch wenn mir Winnetou alias Hanspeter den Arm immer besonders schmerzhaft auf den Rücken gedreht hat. Viele Jahre später gestand er mir übrigens, dass er das nur getan habe, weil er in mich verknallt gewesen sei.
Zwei Seiten der Medaille
Es gibt auch positive Meldungen zum Netflix-Konsum der Kinder. So sollen die Volleyball-Clubs aktuell von Jungs überrannt werden. Und zwar aufgrund der Anime-Serie «Haikyu!!» – was so viel heisst wie «Volleyball!!» Überhaupt sind viele Kinder und Jugendliche – Mädchen wie Jungen – total vernarrt in Animes und Mangas. Sie bilden Communitys, zeichnen selber im Anime-Stil und spielen mit Cosplay, das heisst in Kostümen und mit Accessoires, ihre Helden nach.
Meine 12- jährige Tochter teilt mit ihren Freunden diese Begeisterung. Und auch wenn ich ihren Aufzug in seltsamen Tier-Mensch-Kostümen mit hüftlangen Perücken einstweilen hinterfrage, wenn sie damit in der Stadt Freunde trifft, freue ich mich doch über die Verspieltheit und Inspiration, die sie daraus zieht und bewundere den Mut, sich so auszudrücken, wie es ihr gefällt.
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